Porcupine Tree + Stickmen (27.11.2009, Stuttgart, Carl-Benz-Center)

Im Zeitalter von Castingbands und dem Hype um alles, was gerade auf den Trendzug passt, ist es Genugtuung, dass man es noch auf dem herkömmlichen Weg schaffen kann. Das hätte man anfangs auch nicht von dem als Studioprojekt gestarteten PORCUPINE TREE gedacht, dass sie einmal zu den relevantesten Bands ihrer Zeit gehören werden. Doch der stetig wachsende Erfolg, ohne sich auch nur ansatzweise anzubiedern oder einen Hit zu haben, zeigt, dass noch nicht alles verloren ist im Musikbiz.
Deren momentaner Status macht sich auch bei den Hallen bemerkbar, nach vielen Auftritten im Longhorn wechselte man in Stuttgart die Location und zog ins bis dahin völlig unbekannte Carl-Benz-Center um. Das befindet sich quasi als Lounge vor dem ehemaligen Neckerstadion, in guter Nachbarschaft mit den anderen großen Hallen der Stadt. Ein wenig seltsam kam einem der lange Betonklotz mit dem Hilton im selben Gebäude schon vor, aber öfter was Neues. Auf der Rundreise haben die Briten keine feste Vorband, sondern müssen variieren. An dem Abend durften STICKMEN auf die Bühne und wie Richard Barbieri sagte, die Leute unterhalten.

Doch die Unterhaltungen kamen da erst im Anschluss, nämlich darüber was man da gerade gesehen hat. Zuerst einmal hatte man es mit allesamt erfahrenen Prog-Musikern zu tun. Tony Levin gilt als einer der renommiertesten Basser der Welt, der von seiner Zusammenarbeit mit YES, KING CRIMSON und vor allem PETER GABRIEL her bekannt sein dürfte. Zu ihm gesellen sich KING CRIMSON-Drummer Pat Mastelotto sowie der Fusion-Musiker Michael Bernier.

Den Namen hat die Band von ihrer Instrumentenwahl, denn alle Akteure spielen Sticks. Gut, bei Mastelotto dürfte klar sein, dass er kein komplettes Konzert mit den Händen trommelt, aber seine Kollegen gehen da exotischere Wege. Beide bedienen einen sogenannten Chapman-Stick, der aussieht wie ein überdimensionaler Bleistift, der mit einer Gitarre gekreuzt wurde. Dürften noch nicht so viele gesehen haben, denn nach Firmenangaben sind bisher nur 5000 Stück davon verkauft worden, die aber vor allem bei Konzerten, die der geneigte NECKBREAKER-Leser anschaut weniger benutzt werden.

Und damit kann man anscheinend viel anstellen, denn die Dinger haben 12 Saiten, sind als Bass und Gitarre brauchbar. Und viel angestellt haben Levin und Bernier mit ihren Arbeitsgeräten, denn schon beim Intro „Welcome“legten sie furios los, dass der Zuschauer kaum mitkam. Krassteste Fusionabfahrten wurden geboten, die Finger sausten nur so über die Griffbretter, bei denen ausschließlich getappt wird, technisch eine Augenweide, musikalisch schwere Kost.
Bei „Slow Glide“ nahmen sie ein wenig Tempo raus und ließen ein paar schöne sphärische Klänge in die Halle hinaus, Bernier bearbeitete sein Instrument mit viel Gefühl. Weiche, warme Soundlandschaften, bevor es wieder losgroovte. Dabei benutzte man alles, womit man Klänge erzeugen kann, mit Geigenbögen bearbeiteten sie nicht nur die Sticks, sondern Mastelotto auch seine Cymbals. Und dann war auch seine Einlage mit der Quietschente, die er bei einem Break ganz schnell hintereinander drückte, was sich überraschenderweise genau in den Song einfügte.

Ganz derbe wurde es mit der Bearbeitung von Stravinskys „Firebird“, bei dem zu den jazzigen Ausflügen auch noch Klassik dazu kam. Absolut typische Mucke für Musiker, allerdings auf hohem Niveau. Die Stücke waren fast rein instrumental gehalten, nur ein paar Spoken-Word-Einlagen gab es von Levin. Die Drei schienen aber auf alle Fälle viel Spaß zu haben, kein Wunder, bei derartigem Sound können sie sich nach Herzenslust austoben.
Ausgetobt hat sich auch der Mann am Schlagzeug, der mehr zwischen als hinter den beiden anderen saß. Dadurch konnte er auch gut mit dem Publikum kommunizieren, ich frage mich nur, welche Dame in der ersten Reihe es ihm angetan hatte? Ob sein hemdsärmeliges, maskulines Auftreten daher kam, oder seine Ureigenart ist, lässt sich nur schwer sagen. Was man aber sagen kann ist, dass sein Spiel mit weit vorgestreckten Armen ebenso ungewöhnlich wie beeindruckend ist, derartige Breaks habe ich noch nie gehört, völlig eigenständig was er da zauberte.

Eigenständig und originell waren STICKMEN sicherlich, aber eben auch schwer genießbar. Manchmal ist musikalischer Anspruch nicht alles, ein wenig Songdienlichkeit gehört dazu. So waren die Reaktionen auch eher verhalten, man kam ja aus dem Staunen gar nicht mehr heraus.

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Dass es auch anders geht, dass progressive Musik nicht nur Auslebung instrumentalen Geschicks ist, was die Gegner dieses Genres ja immer verneinen, sah man an den Hauptakteuren an jenem Abend. PORCUPINE TREE gelingt der Spagat zwischen großartiger Songwritingkunst und künstlerischer Integrität, die nicht auf schnellen Erfolg schielen muss. Auf ihrem neuen Album „The Incident“ erlauben sie es sich sogar anstelle einzelner Songs einen 55-minütigen Songzyklus zum Titelsong zu erheben. Dieser wurde dann auch in seiner kompletten Länge und Vielfalt im ersten Teil der zwei Stunden dargeboten.

Das wurde ja schon im Vorfeld diskutiert und mit Spannung erwartet, würde es dem um Gitarrist und Backgroundsänger John Wesley erweiterten Vierer gelingen das Stück adäquat umzusetzen? Ja, es gelang, und mehr noch, durch die visuelle Unterstützung und den lebendigeren Live-Sound bekamen die Stücke noch mehr Tiefe als auf dem Album. Frontfigur Steven Wilson tat gut daran, das Opus Magnum nicht mit vielen Ansagen zu zerstückeln und auch die Instrumentenwechsel gingen fließend von statten.
Höhepunkte waren dabei „Drawing The Line“ das floydeske „Time Flies“ und die finale Ballade „I Drive The Hearse“. Also jene längeren Stücke, welche dem Hörer eher im Gedächtnis bleiben, während der Rest nur dem Weitertransportieren der Atmosphäre dienten, was vor allem auf der Bühne zu vielen schönen Momenten führte.

Wilson war dabei immer der Dreh – und Angelpunkt auf den Brettern, bei vielen Gesangspassagen überließ er aber Wesley die Gitarrenarbeit, während er zwischen seinen charakteristischen Fingerbewegungen und dem Umklammern des Mikrofon pendelte. Als Frontmann ist er indes gereift, seine Stimme klingt kräftiger als früher, was zum Sound der nun zwei Gitarren auch passend ist. Bei den Ausbrüchen auf der Sechssaitigen schlurfte er mit seinen nackten Füssen auf dem Teppichbelag herum, den Kopf versponnen gesenkt, während er sein Instrument immer wieder vor seinem Körper hin – und herwippte.

Ebenso zu beobachten ist auch das Verhalten unter den einzelnen Bandmitgliedern, da ist mehr Interaktion untereinander festzustellen. Da machte man auch mal Späße miteinander, ging auf den anderen zu, früher war das doch etwas steifer, den Blick stur nach vorne gerichtet. So ein Gag, wie sich Wesley und Bassist Colin Edwin mit ihren Weizenbieren abhielten wäre vor Jahren undenkbar gewesen.
Doch das Zusammenspiel litt keinesfalls unter der neu entdeckten „Rock´n´Roll-Attitüde“, das Material wurde brillant vorgetragen, immer wieder genial natürlich Gavin Harrisons Drumming. Viel wärmer als das harte Spiel kurz davor, was den Kompositionen zusätzliche Tiefe verlieh. Ungeheuer konzentriert gingen PORCUPINE TREE zu Werke, bei einigen Instrumentals fast den Einsatz herbei sehnend, um ihn dann perfekt zu treffen. Barbieri sorgt mit seinen Synthesizern für den nötigen Background, tüftelt immer hinten im Halbdunkel herum.

Nach dem kompletten Songzyklus verabschiedete sich die Formation für exakt 10 Minuten, die hinten auf der Leinwand angezeigt wurden. Danach ging es mit Stücken aus der Vergangenheit weiter, bei der vor allem die jüngste zitiert wurde. Nur ein Lied aus der Pre- „In Absentia“-Ära brachte es ins Set. Dem Publikum war es egal, es feierte alles ab, auch wenn die Reaktionen nicht euphorisch waren.
Die Truppe ist vielleicht mittlerweile nicht mehr nur von gerne elitären Prog-Fans umgeben, sondern begeistert auch Alternative-Freaks, Metaller und Elektronikfans. In den Alterklassen ist man ebenso gut durchmischt, da standen schon die ein oder andere Eltern-Kind-Paarung im Publikum.

Soundtechnisch machte sich die breite Glasfassade wie auch beim Support nicht negativ bemerkbar. Sehr transparent war das Klangbild, was den vielen Details den nötigen Raum gab. Als Vorteil bei der optischen Umsetzung erwies sich die Halle auf ganzer Linie, die hohe Decke ermöglichte endlich mal auch von weit hinten eine gute Sicht auf die Leinwand.
Hier gab es mehr oder minder verstörende Videosequenzen, Collagen und Bilder zu sehen, die die Wirkung der Musik noch unterstützten. Wenn keine Bilder da waren wurden sie als Projektionsfläche für die schönen Lichteffekte genutzt, welche oft durch die Halle strahlten, während die Bühne eher spärlich ausgeleuchtet war.

Nach zwei Stunden war dann leider schon Schicht mit der Gewissheit, dass jeder den einen oder anderen Favoriten vermisste. Doch der Abend stand ganz im Zeichen des neuen Albums, bei der nächsten Tournee wird sich das wieder ändern. Auf der anderen Seite hat man auch so viel Material, dass man schon zu geschickten Medleys zusammenfassen muss.
Und das ist die andere Gewissheit, dass hier einer der begnadetsten Acts der letzten 20 Jahre auf der Bühne stand, von dem man in Zukunft noch viel hören wird. Es bleibt abzuwarten wie weit man es ohne die sogenannten Big Points im Business noch bringen wird. Doch wer hier dabei war, der weiß, dass diese Atmosphäre kaum zu Toppen ist, PORCUPINE TREE inszenieren ihre Lieder nicht, sie zelebrieren sie. Und da kommt auch jeder gerne wieder, auf dass man noch größere Hallen fülle. Und wisst ihr wie? Verdient! (Pfälzer)

Setlist PORCUPINE TREE:
Occam´s Razor
The Blind House
Great Expectations
Kneel And Disconnect
Drawing The Line
The Incident
The Unpleasant Family
The Yellow Windows Of The Evening Train
Time Flies
Degree Zero Or Liberty
Octane Twisted
The Seance
Circle Of Maniacs
I Drive The Hearse
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The Start Of Something Beautiful
Russia On Ice/Anesthetize
Lazarus
Way Out Of Here
Normal
Bonnie The Cat
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The Sound Of Muzak
Trains

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