Mehrfach-Wertung der Redaktionnightwish_imaginaerumIch erinnere mich noch genau an meinen ersten Kontakt mit den Finnen, als "Oceanborn" auf dem gerade neu gegründeten Drakkar-Label auf den Markt kam. Nach dem Intro von "Gethsemane" wurde das Teil umgehend gekauft, mich hat selten etwas so schnell überzeugt. Der Nachfolger "Wishmaster" fiel ein wenig ab, weil man zu kompakt arrangierte, ein Manko, welches man bei "Century Child" wieder wett machte. Dann trat man leider in die PEARL JAM-Falle. Während die Grunger auf ihrem phänomenalen Debüt einen schwachen Song hatten, der aber prägend für das weitere Schaffen sein sollte, so taten NIGHTWISH es ihnen mit "Slaying The Dreamer" gleich. Allzu tief gestimmte Riffs beissen sich einfach mit dem immer präsenter werdenden Orchester.
Nun folgt die Reifeprüfung für die neue Sängerin Anette Olzon. Ihre Beiträge auf "Dark Passion Play" waren trotz des großen Schattens ihrer Vorgängerin mehr als akzeptabel. Live stand sie anfangs in der Kritik, konnte sich aber auf der langen Tour steigern. Nachdem das letzte Album einfach zu lang ausfiel geht die Truppe um Tuomas Holopainen sogar einen noch ambitionierteren Weg. Zum dem Werk soll ein ganzer Film in der Art wie "The Wall" oder "Brave" gedreht werden. Die Gefahr sich zu übernehmen schwingt da immer mit, mal sehen wie man sich in musikalischer Hinsicht aus der Affäre zieht.

Denn schon auf den beiden letzten Scheiben wirkte vieles zu überfrachtet und die bereits erwähnten Gegenpole, welche nicht korronspondieren wollten stießen unangenehm auf. Dabei muss sich der Mastermind fragen lassen, ob es bei dem kompositorischen Anspruch nicht besser wäre bei den Metalanteilen dem Gesamtsound ein wenig entgegen zu kommen. Wir erinnern uns, dass beim letzten wirklich überragenden Album gegen Ende auch der progressive Rock der Siebziger ums Eck schaute, der zu vielen Ideen besser passen würde. Doch mit dem Dreher gelang der Durchbruch und man war in der Erwartungshaltungsspirale gefangen. Mir ging da vor allem die Frische verloren, über weite Strecken klang das zu konstruiert.

Nach einem sphärischen Intro steigen wir mitten hinein, die erste Single „Storytime“ eröffnet den Reigen. Die klingt noch eher unspektakulär, die Gitarren rocken viel mehr als metallisch hart zu tönen. Das macht die Nummer sehr zugänglich, der Refrain fällt allerdings zu poppig aus. In eine ähnliche Richtung tendiert „Ghost River“, der Einstieg mit Keyboardfanfaren hat etwas von Empuu Vuorinens Side-Projekt BROTHER FIRETRIBE. Das Orchester und Marco Hietalas Stimme im stampfenden Refrain haben ihre ersten Einsätze, klassischer NIGHTWISH-Stoff, wenn auch irgendwie stärker als zuletzt.
Dann der Schocker, „Slow, Love, Slow“, ein Stück mit dem Holopainen endlich den kompositorischen Mut beweist, denn ich mir schon länger gewünscht habe. Das Ding ist eine reine Jazz-Nummer, aber wirklich gut und an dieser Stelle nicht unpassend. Olzon singt sehr tief, die Drums werden mit dem Besen gestreichelt, klimperndes Piano, eine dezente Trompete und ein bluesiges Solo führen uns in verrauchte Nachtbars. Auf die Reaktionen darauf bin ich einmal gespannt! Die Szene werden sie nicht spalten, denn ausnahmsweise werden sich Traditionalisten und moderne Krachfetischisten einig sein. Megacool!

Noch stimmiger wird es bei „I Want My Tears Back“, die Gitarre und die Sackpfeife von Quasi-Mitglied Troy Donnockley tanzen die schönsten Harmonien. Die Arrangements knallen, die Gesangsduette sind fein und das Lied ist supercatchy. Da ist es wieder, das Händchen für schmissige Songs, das abhanden gekommen schien. Endlich gibt es wieder klare Melodien und gefühlvoll ausgefeilte Strukturen mit viel Liebe zum Detail ohne sich zu verzetteln.
Ebenso zurück ist das ätherische Element wie etwa in der verträumten Ballade „Turn Loose The Mermaids“. Über die Vorliebe für Filmscores des Bandchefs muss man nicht mehr viel Worte verlieren, im Mittelteil verneigt er sich vor einem der ganz großen, Ennio Morricone. So inspiriert klangen die Finnen lange nicht mehr, was vor allem an der neu gewonnen Freiheit liegen dürfte. Sicherlich kommt diese durch den immensen Erfolg, aber es benötigt dennoch Courage über den Tellerrand zu schauen.
Sie tun auch gut daran, das Orchester nicht zum omnipräsent einzusetzen, sondern nur dort wo es der Song verlangt. Beim düsteren, bedrohlichen „The Scaretale“ passt es hervorragend und darf sich dementsprechend austoben. Von der Dynamik her ist „Rest Calm“ ganz stark, zu Beginn legen die Staccatos heftig los, doch je mehr sich Anette in gegen Marcos Stimme durchsetzt umso ruhiger wird das Stück. Wenn sie endgültig die Oberhand hat, fällt es in einen schönen süßlichen Chorus.

Die Metalanteile sind klar herunter gefahren, aber das tut wie schon angedeutet meiner Meinung nach nicht weh. Solange das Songwriting stimmt, besteht kein Grund zum Meckern. Über die Produktion muss auch nicht groß geredet werden, die ist bis ins kleinste durchkonzipiert. Und wer zwischen den ruhigen Passagen nach härteren sucht wird feststellen, dass diese umso kraftvoller wirken.
Diskutieren kann man freilich über den Einsatz eines Kinderchores oder den lange Spoken Words-Part zum Ende von „Song Of Myself“. Das wirkt für den ein oder anderen schon ein Stück weit kitschig. Ob man als Titelsong ein Orchesterinstrumental hinten anhängen muss, in dem markante Ausschnitte der vorangegangenen Lieder zusammen gefasst werden ist auch fraglich. Doch das alles wirkt nicht wie ein Fremdkörper und hat mit Blick auf das Gesamtkonzept seine Berechtigung.

Und Madame Olzon? Die scheint immer mehr in der Band anzukommen. Sie bringt mehr Charakter in ihre Stimme und wirkt bei den Phrasierungen ausdrucksstärker. Da stellt sich die Frage wer da noch eine Tarja braucht. Und vor allem ihren Ehegatten, der ja mehr als mitverantwortlich für den Split gewesen sein soll. Madame Turunen wandelt entgegen früherer Äußerungen noch ziemlich häufig in rockmusikalischen Gefilden. Na ja, wenn man die NIGHTWISH-Klientel bedient fällt kommerziell schon einiges ab. Nur das hier ist Kunst, demnächst wohl großes Kino, das sollte vielleicht mal einer diesem machohaften Business-Gaucho stecken. Danke! (Pfälzer)

Bewertung: 8,5 / 10


Anzahl der Songs: 13
Spielzeit: 75:19 min
Label: Nuclear Blast
Veröffentlichungstermin: 02.12.2011

Wertung der Redaktion
Anne Jannick David Maik Mika Simon Kevin
7,5 4 6 8 6,5 4 5,5
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