Vor drei Jahren, als ihr Debütalbum „Access All Worlds“ veröffentlicht wurde, da schien es als kämen IOTUNN aus dem Nichts. Kaum jemand hatte vorher von der Band gehört und dann legten die einfach mal so ein Album vor, das überall höchste Bewertungen einfuhr. Auch mich konnte die Scheibe auf ganzer Linie überzeugen, sie hat mich geradezu weggeblasen und war 2021 mein persönliches Album des Jahres, das ich mir bis heute sehr oft anhöre. Auch live konnte die Band ihre Klasse beweisen und nun kommt endlich ihr lange erwartetes zweites Album heraus, an das natürlich hohe Erwartungen gestellt werden. Was das wohl für ein Druck gewesen sein muss?
Einen ersten Vorgeschmack darauf bekam man schon im Sommer letzten Jahres, als mit „Mistland“ die erste Single veröffentlicht wurde. Da muss ich sagen, dass mich das Stück zunächst nicht so überzeugen konnte, allerdings fand ich es live besser als die Studioversion. Eigentlich versuche ich immer, Vorab-Singles zu meiden, damit ich nicht, wenn das ganze Album erscheint, schon einen Teil der Songs sehr gut kenne und einen Teil gar nicht – das stört für mich immer das Gesamtgefüge. Aber an „Mistland“ kam man halt einfach nicht vorbei und es wurde so lange vorher veröffentlicht, dass ich es eben doch schon oft gehört habe.
Die weiteren Singles, die bereits veröffentlicht wurden, machen neugierig auf das ganze Album. Sie zeigen viele Facetten dieser überaus talentierten Band und man ist gespannt, wie die Scheibe als Einheit klingen wird. Um es gleich vorweg zu nehmen: Fantastisch. Ich habe keine Ahnung, wie oft ich „Kinship“ mittlerweile gehört habe. Beim ersten Hördurchgang war ich nicht ganz überzeugt, aber wie so oft bei progressiven Scheiben ist man zu Beginn erst einmal von der Fülle und Komplexität etwas erschlagen und braucht mehrere Durchläufe, um sich zurecht zu finden. Aber dann! Bei jedem Hördurchgang entdeckt man neue Details und egal, wie oft man das Album hört, es wird einfach nicht langweilig. Tatsächlich habe ich erst beim Schreiben des Reviews gemerkt, dass das Album fast 70 Minuten und der erste Song beinahe 14 Minuten lang ist. Hätte man mich gefragt, wäre ich nicht darauf gekommen – die Zeit vergeht hier beim Hören wie im Flug.
Für den Opener „Kinship Elegiac“ gibt es kein großes Intro, man ist als Hörer sofort mittendrin im Geschehen. Episch und sanft beginnt das Stück, um dann doch noch heftig zu werden – und bereitet so darauf vor, was einen noch auf dem Rest des Albums erwartet. So facettenreich das Intro auch ist – auf dem Rest des Albums gibt es von allem noch mehr. „Mistland“ fügt sich hier nahtlos an und im Kontext des Albums gefällt mir der Song deutlich besser als vorher alleinstehend. Auf einmal entdeckt man auch völlig neue Seiten an diesem Stück. Wie genial und schnell die Drums sind, aber so weit im Hintergrund stehen, dass die eingängige Melodie perfekt zur Geltung kommt. Sogar Black-Metal-Anleihen kann man hier feststellen – und über allem liegt Jón Aldarás wunderbare Stimme.
Und so fabelhaft, wie das Album begonnen hat, so unglaublich gut geht es weiter. „Twilight“ erinnert vielleicht noch am ehesten an „Access All Worlds“, hat der Song doch einen etwas sphärischen, leicht spacigen Einschlag und Spoken Words, wie man sie auch auf dem Debüt findet. Darüber hinaus hat das Stück aber auch einen wahnsinnigen Groove, geht auch wieder leicht Richtung Black Metal und erinnert hier und da an BORKNAGAR, aber auch an den typischen „Schweden-Death“. Darüber liegt wieder Jóns Gesang, der spielerisch zwischen Cleangesang und Growls wechselt. Aber in „Twilight“ gibt es auch viele lange Instrumentalpassagen, in denen vor allem die Brüder Gräs an den Gitarren brillieren.
In „I Feel The Night“ schafft man das Kunststück, auch komplizierte Songstrukturen eingängig klingen zu lassen; der Song ist episch und bombastisch, ohne jedoch zu übertreiben und mit der genau richtigen Dosis an Heavyness. Und dann dieser Ohrwurmrefrain!
Eine ganz andere Seite zeigt die Band mit „Iridescent Way“. Dass IOTUNN Akustik ganz und gar nicht abgeneigt ist, das haben sie ja spätestens bewiesen, als sie „Access All Worlds – An Acoustic Voyage“ veröffentlichten. Hier gibt es nun ein ganz wunderbares akustisches Stück, das vor allem von der traumhaften Gitarrenarbeit und Jóns sanften Gesang lebt. Ein wunderschönes ruhiges Stück!
Und wenn man sich dann gerade schön weggeträumt hat, dann holt einen das knallharte „Earth To Sky“ wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. Das Stück dürfte wohl der härteste Song sein, den die Band bisher veröffentlicht hat und lässt auch wieder Assoziationen zu BORKNAGAR aufkommen – nur dass Jón hier vollbringt, wofür BORKNAGAR mal drei Sänger hatten. Cleangesang, Growls, Screams – das scheint alles kein Problem für den Mann am Mikro zu sein. Ich habe mich noch nicht endgültig entschieden, weil das Album einfach von vorne bis hinten gut ist, aber ich denke, das hier ist mein Lieblingssong.
Mit einem langen Song hat man das Album eingeleitet, mit einem langen lässt man es auch ausklingen. „The Anguished Ethereal“ zeigt über elf Minuten noch einmal, wozu diese Band im Stande ist. Hier muss ich immer wieder an DARK TRANQUILLTY denken, mir gefällt die Art, wie Jón hier singt, sehr, aber auch die Gitarrenläufe sind fantastisch herausgearbeitet.
Mir gehen so langsam wirklich die Superlative aus, um dieses Album zu beschreiben. Dem Debüt hatte ich seinerzeit ja „nur“ 9 von 10 Punkten gegeben, was mich im Nachhinein geärgert hat, denn eigentlich hätte diese Scheibe mindestens 9,5 verdient gehabt. Mindestens. Den Fehler möchte ich hier nicht noch einmal machen. Obwohl es gut sein kann, dass ich mich in ein paar Monaten ärgere, dass ich hier nicht doch die volle Punktzahl vergeben habe. Denn ich glaube, mit „Kinship“ wird es mir wie mit dem letzten Album gehen und es wird mir mit jedem Hördurchgang besser gefallen. Das Schaffen von IOTUNN ist einfach zu komplex, als dass man es in kurzer Zeit erfassen könnte.
Und dennoch hat die Band geschafft, was man sich kaum vorstellen konnte – das Niveau des Vorgängers gehalten, wenn nicht sogar getoppt. Dabei wiederholt sich die Truppe nicht selbst, sondern „Kinship“ unterscheidet sich musikalisch sehr deutlich von „Access All Worlds“. Und obwohl die Band sich schon mit dem Debüt auf einem wahnsinnig hohen Niveau bewegt hat, kann man hier eine Weiterentwicklung hören. Hatte man auf „Access All Worlds“ oft das Gefühl, dass Jóns Gesang über allem liegt, so fügt er sich hier besser in das Gesamtbild ein, er ist weniger dominant und wirkt dadurch noch harmonischer. Gleichzeitig kommen die Gitarren und auch das Schlagzeug mehr zur Geltung und stellen das Können der Mitglieder hervorragend dar. Der Sound ist mal wieder herrlich fett und fügt alles zu einem harmonischen Ganzen zusammen. Die Stücke sind in gewisser Weise härter, aber auch differenzierter und insgesamt gibt es mehr Variationen. Und ich muss es einfach so sagen: was hat diese Band wieder ein herausragendes Album erschaffen! (Anne)
Bewertung:
9,5 / 10
Anzahl der Songs: 8
Spielzeit: 68:24 min
Label: Metal Blade Records
Veröffentlichungstermin: 25.10.2024