„The Best Is Yet To Come?“ Wäre ich nicht so betagt, hätte ich bei der Ankündigung des neuen Studioalbums von DEEP PURPLE vor Freude Luftsprünge gemacht. Ich liebe die Band und weiß wie sehr sie in Fankreisen stets polarisiert hat, mit dem Statement, ohne Richie Blackmore und Jon Lord sei die Band nicht mehr existent gewesen. Retrospektiv betrachtet bin ich aber als Fan von allen Besetzungen dieser unvergleichlichen Band geworden, nicht nur von ihrer stärksten, den Hardrock so sehr prägenden Periode der MK II-Besetzung.
Spannend zeigte sich doch auch die klassische Ästhetik der frühen MK I-Besetzung des Jahres 1968 mit Sänger Rod Evans und Meisterwerken wie dem elegisch psychedelischen „April“, einer perfekten Symbiose zwischen Rock und Classic oder der bluesig orientierten Richtung mit dem herausragenden Sänger David Coverdale. Selbst die moderne amerikanische Mainstream-Scheibe mit Joe Lynn Turner hat aus heutiger Sicht seinen Stellenwert im Vermächtnis von DEEP PURPLE, auch wenn Ian Gillan natürlich unbestritten die Speerspitze aller Besetzungen darstellt. Ähnlich verhielt es sich mit den wechselnden Gitarristen oder dem Nachfolger des großen Jon Lord an den Tasteninstrumenten. Die Band verpflichtete letztendlich ausschließlich Weltklasse-Musiker in die differenten Epochen der mehr als 55 Jahre andauernden Historie.
DEEP PURPLE sind unbeirrt ihren Weg weiter gegangen und lieferten grandiose Spätwerke mit Produzent Bob Ezrin ab. „Now What, „inFinite“ und „Whoosh“ konnten in zahlreichen Ländern Platz 1 der Charts erreichen. Da soll einer noch sagen, dass der Rockmusik tot ist. Nachdem der langjährige Gitarrist Steve Morse aus privaten Gründen 2022 seinen Job aufgeben musste, ist nun der „junge“ Simon McBride fester Bestandteil der neuen MK 9 Besetzung.
Das 23. Studioalbum der Mannen um Mastermind Ian Gillan, Bassist Roger Glover, Drummer Ian Paice, dem Tastengott Don Airey, sowie dem Neuzugang Simon McBride (Gitarre), wurde jetzt im Juli über earMusic veröffentlicht und erneut vom erfolgreichen Kanadier Bob Ezrin (u.a. KISS, PINK FLOYD, PETER GABRIEL, ALICE COOPER) produziert, dem es wohl wie keinem anderen gelingt, den ursprünglichen DEEP PURPLE-Sound unverkennbar in ein modernes Hardrock-Gewand zu hüllen und zeitgemäß erscheinen zu lassen.
Bei Ankündigung von „=1“ war mir durchaus bewusst, dass die mit Ausnahme von Simon McBride fast 80-jähigen Veteranen nicht die juvenile Power der Ausnahmealben von „Deep Purple in Rock“ oder „Machine Head“ toppen könnten, aber die 13 Songs von „=1“ ( Equals 1), sind erneut die Essenz, die DEEP PURPLE heute ausmachen und gleich vorweg: Das Album ist herausragend. Eine großartige Rockband. Wenn juckt es schon, dass Ian Gillen sich im Alter stimmtechnisch nicht mehr in den Sopran-Höhen von „Child In Time“ bewegen kann.
Der seltsame Albumtitel „=1“ symbolisiert dabei die Vorstellung, dass sich in einer immer komplexer werdenden Welt letztendlich alles auf eine einzige, vereinheitlichte Essenz reduzieren lässt. Alles summiert sich zu eins. Und gleich nach den ersten Hördurchgängen macht sich die Veränderung zu den Vorgängeralben bemerkbar. Hier hinterlässt der „Neue“ seine musikalischen Spuren. Die Gitarre des 45-jährigen Iren zeigt sich härter und Riff-lastiger gegenüber den verspielteren Gitarrenparts von Steve Morse. Das macht den Longplayer zu einem hart rockenden Gitarrenalbum obwohl auch der Neuzugang die perfekte Symbiose mit dem Orgelgott Don Airey statuiert.
Die vorab veröffentlichte Single „Portable Door“ wird sich in die Riege der DEEP PURPLE-Klassiker einreihen. Memorable Melodie, hartes Drumming von Ian Paice, sagenhafte Keyboard- und Gitarrensoli und ein Gillan, der konstant bei Stimme ist. Der Song weckt Reminiszenzen zu „Pictues of Home“ vom 1970er „Machine Head“-Album. McBride und Airey duellieren sich mit einer Intensität wie einst Ritchie Blackmore und Jon Lord. Besonders deutlich zeigt sich dieses Zusammenspiel auch im Schlussstück „Bleeding Obvious“, einem sehr rauen Song mit progressiven Einflüssen, der an die frühe Bandgeschichte erinnert.
Der Einsteiger „Show Me“ gestaltet sich hart nach vorne treibend mit starken Gitarrenriffs und einem energischen Gillan, der sich souverän in Mittellage bewegt; quasi „Speed King“ mit leicht reduzierter Geschwindigkeit. Viel Platz bleibt auch hier für das Gitarren- und Synthesizer (nicht Orgel)-Duell zwischen Airey und McBride. Der Song bleibt wie viele auf dem Album gleich im Ohr hängen. So verhält es sich auch mit „A Bit Of The Size“; sehr heavy, ein dramatischer Gillan mit seinem hervorragenden Sprechgesang, und Gitarrensoli, die dem Song das knallharte Gerüst geben. „Sharp Shouter“ folgt einer außergewöhnlich harten Linie; dazwischen immer wieder die wunderbaren Old-School-Orgel-Ergüsse von Don Airey und einem Ian Paice, der offensichtlich glaubt, sein Drumkit zertrümmern zu müssen. „I`M Saying Nothing“ enthält das wohl herausragendste Guitar-Solo von Simon McBride, steigert sich extrem heavy und zeigt erneut die Spielfreude und Energie der Ausnahmeband.
Erst bei „If I Were You“ nimmt die Band das Tempo heraus, punktet durch Gillans gefühlvolle Art der Interpretation solcher Balladen, die zudem durch die immanenten Gitarrensoli punkten und dennoch über eine solide Härte verfügen. Die zweite Ballade „I`ll Catch You“ folgt dem Schema, wandelt unverkennbar im PURPLE-typischen Sound als emotionale Blues-Ballade und punktet durch die Gitarrenarbeit von McBride im Stil des unvergessenen GARY MOORE. Die zweite Single-Auskoppelung „Pictures Of You“ wird sich ebenfalls zu einem typischen Klassiker entwickeln und vereint mit den leicht melancholischen Melodiebögen äußerst gekonnt alle Stärken dieser Band; mein absoluter Favorit der Scheibe mit seinen harmonischen Hooks, der in der Riege „Perfect Strangers“ anzusiedeln ist. Der „Highway Star“-Song des Albums ist aber wohl „Now You`re Talkin“, welches den Hörer in Sachen Speed an die Grenzen treibt und der gesamten Instrumental-Sektion Narrenfreiheit einräumt; unglaublich, welches Rockbrett hier abgezogen wird. „Lazy Sod“ erinnert nicht nur von Titel her an „Lazy“, steckt voll satirischem Wortwitz, zeigt aber auch die ernste Seite Gillans, der sich mit dem Thema Klimawandel auseinandersetzt. Strukturell Ist „Lazy Sod“ eine mystische Uptempo-Nummer mit wechselnden Melodiebögen und Don Airey orgelt sich hier um den Verstand mit klassischer Attitüde. „Old Fangled Thing“ betört mit improvisatorisch genialer Funk-Stimmung.
Fazit: Nach ca. 20 Hördurchgängen wird das Album derart gut, dass ich meine Euphorie kaum in Worte fassen kann. Die eklektische Mischung der band-typischen Stilrichtungen wurde perfekt umgesetzt. Dank JUDAS PRIEST, SAXON, THE ROLLING STONES oder URIAH HEEP weiß man ja, zu welchen Höchstleistungen Dinosaurier noch fähig sind. Aber dieses DEEP PURPLE-Album ist in jeder Beziehung perfekt und verkörpert auf phänomenale Weise alle Epochen dieser großartigen Band. Simon McBride beweist sich als würdiger Nachfolger von Steve Morse und natürlich Ritchie Blackmore. Um das neue Album gebührend zu feiern, wird Deep Purple im Rahmen der „=1 MORE TIME“-Tour in diesem Jahr weltweit bei 60 Konzerten auftreten. Und ich werde mit Sicherheit dabei sein. (Bernd Eberlein)
Bewertung:
10 / 10
Label: earMusic
Anzahl der Songs: 13
Spielzeit: 52:11 min
Veröffentlichungstermin: 19.07.2024